Das Shanti erklingt, die zarten feinen Töne bringen die aufgeregten Kinder zur Ruhe. Dann öffnet Brigitte Reiser ihre Holztruhe, holt Schätze wie Vogelfedern hervor, eine Muschel, ein Fläschchen mit Feenstaub (Sand) und – ein Märchen! Die Mädchen und Buben, allesamt Erstklässler, sind fasziniert und lauschen gespannt den "Wichtelmännchen" der Brüder Grimm, die Brigitte Reiser mit ihrer geschulten Märchenstimme erzählt. Um das Märchenhafte zu betonen, trägt die Mutter von zwei erwachsenen Kindern stets ein bodenlanges fließendes Gewand in warmen Farben. Manchmal entzündet sie auch Räucherwerk oder eine Kerze.
"Märchen werden nicht vorgelesen, sondern erzählt. Das ist das Entscheidende: Ich sehe die Kinder vor mir, kann auf ihre Reaktionen eingehen. Es wird den Kindern viel zu wenig erzählt und vorgelesen, man parkt sie lieber vor dem Fernseher oder der Playstation." Phantasie und Kreativität aber würden nur von Märchen auf unnachahmliche Weise angeregt.
Für Erstklässler eigneten sich vor allem Die Wichtelmänner, Der süße Brei, Hans im Glück, Rumpelstilzchen. Nach der Märchenstunde singt, malt oder bastelt Brigitte Reiser gerne mit den Kindern, lässt das Gehörte frei darstellen und verarbeiten. Am liebsten sind ihr Hans im Glück – "Die Kinder stimmen eigentlich immer zu, dass man auch mit Wenigem glücklich sein kann" – und Die Prinzessin auf der Erbse von Hans Christian Andersen. Diese empfindliche Hoheit hat sie schon als Grundschullehrerin im Unterrichtsfach Textiles Gestalten als Thema gewählt. Verschiedene Stoffschichten wurden aufeinandergenäht inklusive aufgeklebter echter Erbse. Als Märchenerzählerin hat sie Die Prinzessin auf der Erbse in einem eigenen Buch aufgegriffen und selbst illustriert (siehe Foto).
Klassiker der Brüder Grimm sind ihr am meisten ans Herz gewachsen. "Die Sprache ist es wert, gehört zu werden." Doch ihr Märchenschatz wird immer größer und internationaler: "Sehr schön ist ‚Der Dornbusch von Donnegal’ aus Irland. Dabei geht es um "kleine Leute’, die unter Dornbüschen leben." Auch hierzulande, weiß Brigitte Reiser, gibt es in der Märchenwelt Zwerge, die unter Holundersträuchern leben. "Darum darf man Hollerbüsche auch nicht ausreißen!"
Wie ist sie eigentlich zum Märchenerzählen gekommen? "Ich stieß zufällig auf eine Annonce ‚Ausbildung zur Märchenerzählerin’, habe die Seite aber zuerst überblättert. Ein paar Tage fiel mir die Annonce wieder ein und mir war klar: Das ist das Richtige für die Zeit nach Deiner Berufstätigkeit als Grundschullehrerin". Nach einem ersten Wochenende an einer Märchenschule in München war es um sie geschehen und sie hat sich zu der über einjährigen Ausbildung entschlossen.
Zur Ausbildung gehört eine Schulung durch eine Stimmbildnerin. Die einzelnen Märchen verlangen unterschiedliche Stimmlagen – Rotkäppchen spricht mit heller Stimme, der Wolf mit tiefer. Auch die richtige Haltung im Sitzen oder Stehen und die passenden Gebärden sind wichtig. "Die Gesten müssen ausgewogen sein, Herumhampeln ist ganz falsch." Jedes Seminar steht unter einem besonderen Aspekt wie freies Märchenerzählen, Archetypen im Märchen, das heilende Märchen. Märchenerzählerinnen treten beispielsweise an Grundschulen auf, auf Christkindl- und Mittelaltermärkten, in Kindergärten. Und im Prinzip überall, wo sich junge und junggebliebene Menschen dem Wunderbaren, das in unserer Welt sonst zu kurz kommt, öffnen und sich auf eine Reise ins Märchenland mitnehmen lassen.
Doris Losch
Weitere Informationen:
www.maerchenschule-rosenrot.de
Bildtext: Brigitte Reiser. Foto: Doris Losch
(Der Link wurde am 01.12.2009 getestet.)