Brikada - Magazin für Frauen

Brikada

Dorothea Puschmann: Hannes, Nelly und der Engel

09.05.2010

Rosa Clematisblüten lugten zum offenen Fenster herein. Draußen, überall zwischen dem frischen Frühlingsgrün, leuchteten verschieden farbige Tulpen. Während Hannes am Tisch saß und die Sonne genoss, ließ er die Ereignisse der vergangenen Monate nochmals an sich vorüberziehen.

Zum zweiten Mal an jenem Tag war er zu den großen grauen Müll-Containern am nahe gelegenen Mietsblock geschlurft. Das Gehen war ihm schwer gefallen, Feuchtigkeit und Kälte waren ihm in die Glieder gefahren. Sein Schlafplatz unter der Brücke war zwar recht komfortabel gewesen, wenn er da an seine Kollegen in den Parks dachte, die oftmals nur eine Bank zum Schlafen benutzten, aber feucht hatte er es auch gehabt. Es war der 23. Dezember gewesen. Er hatte die Gedanken an Weihnachten schnell von sich fort geschoben, um nicht rührselig zu werden. Solche Gefühle konnten einen das Leben kosten. Hannes hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und sich wegen der schnell nahenden Dunkelheit sputen müssen. Der erste Container hatte nichts Brauchbares hergegeben. »Penner!«, hatte er verächtlich hinter sich vernommen. »Schon mal mit Arbeit versucht?« Er kannte diese Bemerkungen gut, versuchte aber inzwischen, sie nicht mehr nah an sich heranzulassen.

Aus dem zweiten Container hatte er einen grauen Fetzen hervorgezogen, der wohl mal ein Pullover gewesen war. »Besser als nichts.« Ein Geräusch, eine Art Fiepen, hatte ihn aufhorchen lassen. Er hatte innegehalten und war ganz still gewesen. Nein, wohl nur eine Täuschung. Der dritte Container hatte ihm einen halbwegs brauchbaren Apfel und einen Kanten hartes Brot beschert. Was die Menschen alles wegwarfen. Wieder hatte er das Geräusch gehört, diesmal ganz deutlich und nah. Er hatte sich doch nicht geirrt. Es war aus der großen Altpapier-Tonne gekommen. Er hatte den Deckel zurückgeschoben, hineingelugt, aber außer Altpapier und Kartons nichts sehen können. Dafür hatte es wie im Zoo gerochen. Das Fiepen war lauter und zu einem deutlichen Winseln geworden. Er hatte in den Container gefasst und etliche Lagen Zeitungspapier zur Seite geschoben, bis er plötzlich in etwas Haariges, Weiches, Warmes gegriffen hatte. Nach einem Ausruf des Erstaunens hatte er eine Handvoll Hund zu Tage befördert. Das kurze Fell des abgemagerten Tieres war von gelblich-brauner Farbe. »Da bist du bei mir nicht richtig«, hatte er geseufzt und das Kleine in einem ersten Impuls gerade wieder zurücksetzen wollen, als eine alte Dame bei ihm stehen geblieben war. »Junger Mann«, hatte sie ihn streng gerügt, »wenn Sie so herumlaufen müssen, ist das Ihre Sache, aber Ihren Hund sollten Sie wirklich etwas besser pflegen und vor allem füttern, das arme Tier ist ja schon halb verhungert!«
»Aber …«, hatte er unbeholfen gestammelt und den Fall richtig stellen wollen, doch die alte Dame hatte ihn gar nicht zu Wort kommen lassen.

»Kommen Sie, kommen Sie schnell!« Energisch hatte sie ihn samt dem kleinen Wesen weg von den Containern und mit sich fortgezogen. »Ich wohne gleich um die Ecke im Parterre!« Als Hannes viele Stunden später wieder auf der Straße gestanden hatte, war er sich wie in einem Traum vorgekommen. Gewaschen und warm gekleidet war er gewesen - und zum ersten Mal seit langem wieder richtig satt. Die alte Dame hatte Hannes neben etlichen zweckmäßigen Kleidungsstücken auch eine warme Decke mitgegeben. »Ich weiß, mein Mann wäre damit einverstanden gewesen«, hatte sie zum Abschied gemurmelt und Hannes lange die Hand gedrückt. »Denken Sie an das Versprechen, das Sie mir gegeben haben!« Und mit einem Blick auf die kleine Mischlingshündin: »Nelly wäre ein schöner Name.«

Dankend hatte er den Schlafplatz auf der Couch abgelehnt. Er konnte geschlossene Räume über längere Zeit nicht ertragen, so gern er auch noch etwas geblieben wäre. »Frohes Fest, Nelly«, hatte er seiner neuen, kleinen Freundin zugeflüstert, doch die war längst erschöpft in der großen Brusttasche seines neuen Mantels eingeschlafen.

Ende März hatte es bereits die ersten warmen Tage gegeben. Schon in Frühlingslaune hatten Hund und Herrchen sich morgens auf den Weg in die Fußgängerzone der Stadt gemacht. Hannes hatte die Erlaubnis bekommen, auf der Straße vor dem kleinen Boulevard-Theater mit Nelly aufzutreten. Die Hündin war ein Naturtalent; er brauchte ihr eine Übung nur ein Mal zu zeigen und sie beherrschte das Kunststück. Ihre Gelehrigkeit war erstaunlich, ihre Liebe zu ihm grenzenlos. Für ihn wäre sie auch durch einen brennenden Reifen gesprungen. Seit ein paar Wochen waren sie bereits hier aufgetreten. Es war sofort ein voller Erfolg gewesen. Die Menschen waren schnell stehen geblieben und hatten unter Staunen und viel Beifall die Kunststückchen verfolgt, die Hannes mit Nelly vollführt hatte. Und das Wunderbare war, sie konnten dabei Geld verdienen!

Inzwischen hatte der Mai Einzug gehalten und endlich war es soweit; Hannes und Nelly konnten umziehen. Ihr neues Zuhause befand sich in der Laubenkolonie Zum fröhlichen Bergmann. Frau Linde, die alte Dame, die kurz vor Weihnachten wie ein rettender Engel aufgetaucht war, hatte ihm ihr kleines Schrebergarten-Häuschen zum Wohnen angeboten. »Steht doch seit dem Tod meines Mannes ohnehin meist leer!«
»Aber erst, wenn ich eine kleine Miete bezahlen kann«, hatte er strahlend erwidert.

Hannes war sehr aufgeregt und empfand leichte Beklemmungen, als er zum ersten Mal das winzige Häuschen betrat. Doch nur kurz, dann schmunzelte er, als er sah, wie wohl sich Nelly fühlte. Sie sauste ausgelassen herum, nahm dann das alte Sofa für sich in Besitz und sah ihn erwartungsvoll an. Frau Linde hatte dafür gesorgt, dass er in seinem neuen Zuhause erst einmal das Nötigste zum Leben vorfand. Sie wusste, mehr würde er nicht annehmen. Hannes stand auf, nahm Geschirr aus dem Schrank und deckte den Tisch für drei Personen. Es blieb noch etwas Zeit. Er hatte einen üppigen Maiglöckchenstrauß gepflückt und einen Marmorkuchen besorgt; Frau Lindes und auch sein Lieblingskuchen. Bei einem Stück Marmorkuchen hatte die alte Dame ihm gegenüber bei ihrer ersten Begegnung ihre Tochter erwähnt. »Sie wohnt seit einigen Jahren mit ihrem Mann in Kalifornien. Das ist natürlich zu weit weg, um sich öfter zu sehen.« Während Hannes die Fotos betrachtet hatte, waren Frau Linde Tränen über die Wangen gelaufen. »Trotzdem hatte ich so sehr gehofft, sie könnte wenigstens zu Weihnachten für ein paar Tage kommen. Leider muss sie arbeiten.« Auf einem der Bilder hatte die Adresse der Tochter gestanden. Glücklicherweise war sie Hannes in Erinnerung geblieben. Lange hatte er überlegt, womit er seiner Wohltäterin eine Freude bereiten könnte, dann war ihm ein Gedanke gekommen.

Zu seinem Erstaunen hatte ihm Frau Lindes Tochter unverzüglich auf seinen Brief geantwortet und sich spontan für den zweiten Sonntag im Mai angekündigt. Dieser Tag war heute, Muttertag.
Frau Linde würde Augen machen!
Dorothea Puschmann©

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