2012. Städtisches Notfall-Krankenhaus, kurz nach 20 Uhr.
Ein heruntergekommenes Gebäude aus den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts. Die meisten der Scheiben sind blind oder zersplittert, die Aufschrift Notfall-Krankenhaus auf dem Schild über der Eingangstür ist mehr zu ahnen, als zu lesen.
Ein junger Mann steht schmerzverkrümmt vor der Glastür des Krankenhauses. Er hat beide Hände auf seinen Bauch gepresst.
Die Tür ist geschlossen. Er klingelt. Nichts rührt sich. Nach mehrmaligem Läuten, Klopfen und Rufen, rauscht es schließlich in der Sprechanlage. Gleichzeitig setzt sich die Außenkamera über der Tür mit einem rostigen Knirschen in Bewegung, bis ihr Auge auf ihn gerichtet ist. Schließlich vernimmt er eine mürrische Stimme:
»Geschlossen.«
»Geschlossen?«, stöhnt der junge Mann, »aber ich bin ein Notfall, Sie müssen mich aufnehmen!«
»Müssen?«, kommt es zurück, »wir müssen gar nichts. Außerdem sind wir überbelegt, kein Bett mehr frei. Versuchen Sie es in ein paar Tagen wieder.« Knacken in der Sprechanlage. Stille.
Der junge Mann ist völlig verzweifelt und läutet Sturm.
»Ich habe doch gesagt, es ist aussichtslos, alle Betten belegt.« Wieder diese mürrische Stimme.
»A...aber«, stottert der junge Mann, »Sie müssen mir helfen, das ist doch Ihre Pflicht! Mir ist schon seit Tagen schlecht, und sehen Sie, hier unten rechts im Bauch, da tut es mörderisch weh!«
»Wenn Sie es sagen. Vielleicht der Blinddarm?«
»Was weiß ich, ich hatte gehofft, dass könnte mir ein Arzt sagen.«
»Es ist kein Arzt frei.«
»Aber -«
»Junger Mann, Sie hören mir nicht zu! Kein Arzt, kein Bett. Allerdings ...«
»Ja? Was ist allerdings? Bitte, Sie müssen mir helfen, mir ist so übel, ich muss mich unbedingt hinlegen.« Der junge Mann stöhnt herzerweichend.
»Allerdings«, wiederholt die Stimme, »eine Möglichkeit gäbe es vielleicht noch. Ich sehe gerade, eine Kabine wird frei, der kleine OP-Raum.«
»Oh, gut.« Der junge Mann atmet ein wenig auf, soweit das bei seinen großen Schmerzen möglich ist. »Dann lassen Sie mich doch bitte endlich herein.«
»So einfach ist das nicht«, kommt es streng, »erst müssen wir, das ist Vorschrift, noch einige Formalitäten klären!«
»Großer Gott, was denn nun noch? Ich kann nicht mehr«, röchelt der junge Mann. »Hilfe, warum hilft mir denn niemand?«
»Ohne Formalitäten keine Untersuchung, keine OP. Wo denken Sie hin, junger Mann. Klingeln hier einfach und wollen sofort ein Bett, einen Arzt. Sind Sie privat versichert oder zusatzversichert?«
»Was?«, der Kranke schnappt nach Luft, fasst sich dann aber mühsam wieder. »Nein«, ächzt er, »Kassenpatient.«
»So.« Bei aller Kürze des Wortes ist die Enttäuschung - oder ist es eher Verachtung? - nicht zu überhören. »Na ja, immer mit der Ruhe, dann schauen wir mal, was wir hier haben.«
Das typische Geräusch eine Zippo-Feuerzeugs ist zu hören, gefolgt von einem tiefen Inhalieren. Gleichzeitig mit dem Ausatmen meldet sich die Stimme wieder:
»Sie können sich glücklich schätzen, junger Mann. Ich habe hier zwei Angebote zur Auswahl. Das erste ist unser Super-Night-Spartarif für den Erstbesuch. Es ist doch Ihr erster Besuch hier?«
»Jaja, was bedeutet dieser Tarif?«
»Sie erhalten von uns für zwei Stunden den kleinen Selbsthilfe-OP-Koffer. Gegen eine Leihgebühr, versteht sich. Der enthält alles, was Sie für eine Untersuchung und kleine Operation benötigen. Gebrauchsanleitung, Medikamente, Geräte - alles drin. Aber in zwei Stunden müssen Sie ihn wieder abgeben, sauber und die Bestecke sterilisiert, versteht sich. Ihr Nachfolger soll sich schließlich nicht infizieren. Hallo, hören Sie mir noch zu?«
Röcheln. Dann mit zittriger Stimme: »Und das andere Angebot?«
»Wir haben hier ein paar Erstsemester. Wir mussten ja alle mal klein angefangen, und ganz ohne Übung geht es schließlich nicht.
Hallo, hören Sie? Hallo, hallo, sind Sie noch da?«
(©Dorothea Puschmann)
Über die Autorin:
Dorothea Puschmann, Jahrgang 1956, arbeitete vor ihrem Studium der Religionswissenschaft mehrere Jahre in der Buch- und Verlagsbranche in Münster und Köln.
Zu ihren bisherigen Veröffentlichungen zählen satirische Geschichten, Lyrik und Kurzkrimis für Erwachsene und der Roman Zwickmühle, ihr erster Kriminalroman (Gmeiner, 2009). Weitere Romane werden folgen.
2010 wird sie u. a. mit einem Kurzkrimi (Gut Holz) in der Anthologie Mörderisches Münsterland (KBV-Verlag, ab Mai ) vertreten sein.
Dorothea Puschmann ist von 2002 bis 2009 Herausgeberin des Magazins criminalis gewesen, eines Jahresmagazins für KrimiLiteraturfreunde, Mitglied im ‚Syndikat’ (Autorengruppe deutschsprachige Kriminalliteratur) und bei den ‚Mörderischen Schwestern’ (Vereinigung deutschsprachiger Krimiautorinnen).
Bildtext: Die Autorin Dorothea Puschmann